Mein Buch kommt ...
Alles in allem kann ich behaupten, dass ich viel Zeit im Wald verbracht habe und mich weiterhin an den kleinen Schönheiten erfreuen kann: Die imposante Größe der Bäume, prächtiger Fingerhut am Wegesrand, das dichte Grün einer Buchenkrone, das Knistern des Laubs unter den Füßen, der harzige Geruch der Nadelbäume, der weiche Untergrund des Pirschweges oder das Reh, welches mich aufmerksam aus sicherer Entfernung begutachtet. Jeder Waldbesuch weckt unterschiedliche Gefühle in mir. So auch auf den NORDPFAD-Wanderungen.
Während meiner NORDPFAD-Wanderungen habe ich einige größere und kleiner Waldgebiete durchwandert. Mir fallen aus dem Stehgreif Hinzel, Federlohmühlen, Timke-Wälder, Hinterholz und Hohenmoor und Hölzerbruch-Malse ein. Selbstverständlich waren auch bei den anderen NORDPFADE in der Regel fast immer Abschnitte durch Waldgebiete vorhanden, doch bei dem Thema Wald sind die genannten Routen meine persönlichen Sieger. Denn hier waren die Wald-Erfahrungen am prägendsten.
Nehmen wir als Beispiel den Erstgenannten, der gleichzeitig mein letzter war. Meine Abschlusswanderung führte mich durch Hinzel. Und ich war nicht allein. Gemeinsam mit Udo Fischer von Touristikverband Rotenburg Wümme habe ich die großen Waldgebiete auf dem rund 14 Kilometer langen Rundweg an einem grauen Märztag erkundet. Eine Wanderung, die in nicht mal fünf Stunden locker zu bewerkstelligen ist, wurde eine über sechsstündige Erlebniswanderung. Die zeitliche Ausdehnung lag zum einen an meiner Einweisung in die Arbeit eines Wegepatens (einer ehrenamtlichen Person, die sich um die Pflege eines NORDPFADS kümmert). Udo hat mir während der Wanderung erklärt, worauf es bei dieser Aufgabe ankommt. Dabei haben wir Abschnitte neu markiert, alte Markierungen ausgetauscht, sind Wege zweimal gelaufen, um die Eindeutigkeit von Schildern zu prüfen und haben über die besten Orte für neue Pausenbänke philosophiert. Doch das war nicht der einzige Grund für unser schneckengleiches Vorankommen. Nein, es waren vielmehr wir beide, die an jedem zweiten Baum anhielten, die bizarren Wuchsformen bewunderten, Fotos machten, kletterten und Pilze oder Moose bestaunten. Zwei Waldfreunde unter sich, ausgestattet mit den modernen Wundern der Technik, nämlich Smartphone-Kameras. Und ich kann euch verraten: Die Waldgebiete auf diesem NORDPFAD haben gehörig viele Motive zu bieten. Ich hatte an diesem Tag viel Spaß im Wald, aber nebenbei viele spannende Informationen zu der Geschichte der NORDPFADE und Udos Arbeit erhalten und meine letzte Wanderung auf dem Weg zur „Hall of NORDPFADE“ beschritten. Eine Walderfahrung, die kaum schöner hätte sein können.
Doch die Liebe zum grünen Dickicht ist nicht gänzlich ungebrochen. Der römische Schriftsteller Tacitus beschrieb die germanischen Wälder einst als dunkel und unheimlich, das Land sei „teils Schauder erregend durch seine Wälder, teils widerlich durch seine Sümpfe“. Rotkäppchen begegnete im dunklen Wald den bösen Wolf und auch Hänsel und Gretel trafen die kannibalisch veranlagte Hexe in einem Wald. Umgeben von dichten Nadelbäumen oder dichtem Unterholz kann das Waldglück schnell umschlagen und eine tief verwurzelte und doch irrationale Furcht wecken. Lasst euch von mir einen Rat geben: Schaut euch keine Horrorfilme an, bevor ihr an einem nebligen Novembertag allein in einen großen Wald geht. Kennt ihr „The Blair Witch Project“? Der Film, in dem ein paar junge Menschen im Wald übernachten, um eine Dokumentation über die „Hexe von Blair“ zu drehen? Nein? Dann solltet ihr den Film auf KEINEN FALL schauen, BEVOR ihr im Wald schlafen oder eine Nachtwanderung machen wollt. Achtung, Spoileralarm: Sehr gruselige Stimmung im Wald, viele Tränen, schaurige Puppen in den Ästen, verzweifelte Schreie aus der Dunkelheit, trostlose Einsamkeit umgeben von zahlreichen Bäumen – und am Ende folgt der Tod.
Genau diese Erinnerungen schossen mir während meiner Wanderung auf dem NORDPFAD Hölzerbruch-Malse durch den Kopf. Abends zuvor hatte ich mir gruselige Wanderstorys angehört (großer Fehler). Der Tag war grau und nebelverhangen. Eine schlechte Kombination, während man einen verlassenen Winterwald betritt. Die Farben der Bäume und Umgebung lagen irgendwo zwischen schlammgrün und tiefschwarz. Vereinzelte Tropfen fielen von den kahlen Ästen, das Laub unter meinen Füßen raschelte unnatürlich laut. Überhaupt erschienen mir die Geräusche vom Nebel seltsam verzehrt. Über mir krächzten ein paar schwarze Krähen und schienen mich aus dem Augenwinkel arglistig zu beobachten. Hatte die eine gerade heimtückisch gelacht? Mein Hirn spielte mir Streiche und steigerte sich in ein wahres Feuerwerk der möglichen (und unmöglichen) Horrorszenarien rein. Von Axtmörder, über Scheiterhaufen bis zu tollwütigen und augenauspickenden Krähen zog das gesamte Gruselfilm-Repertoire an meinem geistigen Augen vorbei. Ganz unter uns: Ich machte mir um ein Haar vor Angst in die Hose. Am Ende waren alle Ängste selbstverständlich unbegründet. Denn im Wald – besonders einem in Deutschland – sind wir statistisch gesehen vor Axtmördern oder Vergewaltigern sicherer als in der Stadt. Auch irrationale Ängste vor wildgewordenen Wölfen, geschweige denn Krähen, sind unbegründet. Am Ende habe ich die Walddurchquerung unbeschadet überstanden und mich über meine negativen Gedanken geärgert, denn nüchtern betrachtet, war der Wald wunderschön.
Am Ende des Tages werde ich weiterhin viel Zeit meines Lebens im Wald verbringen, spannende Flechtenformationen an Baumrinden bewundern, den erdigen Duft einatmen, das Zwitschern der Vögel genießen und mich am Wechselspiel zwischen Sonnenstrahlen und Schatten erfreuen. Genauso, wie ich mich über die zahlreichen Zecken auf meinen Beinen ärgern, mich bei Nacht im Wald fürchten und bei Gewitter den Wald vermeiden werde. Denn meine Beziehung zum Wald ist wie eine gute Ehe: mit Höhen und Tiefen.
Die 24 NORDPFADE im Landkreis Rotenburg (Wümme) liegen hinter mir. Von Juli 2022 bis März 2023 habe ich einen NORDPFAD nach dem anderen bezwungen.
Anfang 2022 steckte ich in einer nicht wirklich vorhandenen Lebenskrise. Die Kinder waren aus dem anstrengenden Baby-Alter raus und glitzerten bei ihren ausufernden Bastelaktionen das ganze Haus voll. Im Job habe ich mich als Technische Redakteurin vollends etabliert, übernahm verantwortungsvolle Aufgaben, die meine Halbtagsstelle um zwei weitere Vollzeitstellen überstiegen und war dabei, die Weltherrschaft zu übernehmen. Doch irgendwas fehlte mir. Ich wollte raus aus dem Hamsterrad und neue Ufer erkunden. Ich las zahlreiche Bücher über Menschen, die ihren Job gekündigt, ihr Haus verkauft haben und in ferne Länder gereist sind. Sie haben Fernwanderungen unternommen, sind auf dem SUP durch ganz Deutschland gepaddelt oder haben mit ihren Esel die Alpen überquert. Ich wusste: Das will ich auch. Aber nicht ganz so radikal. Ich wollte den Hape Kerkeling machen, ohne in überfüllten Hütten zu schlafen, mein großes Geschäft mit einer Schaufel zu verbuddeln oder meine Zehennägel zu verlieren. Doch wie?
Die Eingebung folgte auf der Autobahn. Ich fuhr am NORDPFADE-Schild beim Grundbergsee vorbei. Das Schild wurde plötzlich von einem einzelnen Sonnenstrahl erleuchtet, ein Chor stimmte engelsgleichen Gesang an und Konfetti fiel vom Himmel – na ja, zumindest kam es mir so vor. Eine Recherche im Internet formte die Eingebung zu einer ausgereiften Idee: Ich würde die 24 NORDPFADE in der Region Rotenburg Wümme abwandern. Und zwar innerhalb eines Jahres.
Die NORDPFADE sind Wanderwege mit einer Länge zwischen 5 und 32 Kilometern Länge und bieten damit Tagestouren für Anfänger und Fortgeschrittenen. Da ich selber im Landkreis Rotenburg wohne, kann ich alle NORDPFADE in maximal einer Stunde Autofahrt erreichen und bei den kürzeren Strecken sogar meine Familie mitnehmen. Ein idealer Kompromiss zwischen „Ich lasse mein altes Leben hinter mir und wandere monatelang den Appalachian Trail ab“ und „Ich versauere in meinem Alltagstrott“.
Also machte ich mich im Sommer 2022 auf dem Weg zum ersten Mal. Ich startete mit dem NORDPFAD Kempowskis Idylle – mit 11,6 Kilometern ein eher kürzerer Wanderweg, den ich mit einer großen Portion an Selbstüberschätzung gestartet und völlig entkräftet beendet hatte. Daraufhin folgte eine längere Pause, bis ich im Oktober feststellte, dass zwar einige Monate ins Land gezogen, der Sommer vorbei und kaum ein NORDPFAD von mir abgewandert wurde. Bei 24 NORDPFADEN und 12 Monaten musste ich zwei NORDPFADE pro Monat abwandern – bisher hatte ich 2,5 NORDPFADE in fast vier Monaten geschafft. Dazu kam: Ein Buchverlag wollte meine Erfahrungen auf den Wanderungen herausgeben und brauchte das fertige Manuskript möglichst im März 2023.
Leicht unter Druck gesetzt und mit einem wahren Kraftakt wanderte ich den gesamten Herbst und Winter durch. Bei Schnee, bei Eis und Minusgraden, bei Nebel und erstaunlich wenig Regen. Selbst bei Sturm zog es mich auf die NORDPFADE und ich wurde süchtig nach dem Wandern und nach den NORDPFADEN. Ich entdeckte meine Wahlheimat zu Fuß, sah wunderschöne Moore, dunkle Seen, weite Wiesen und Niederungen, traf auf unzählige Flüsse und Wälder und genoss jeden einzelnen NORDPFAD. Doch auch die Angst wanderte besonders zu Beginn mit. Axtmörder, Wölfe, wildgewordene Wildschweine – meine Fantasie lief insbesondere bei Nebel und in mystischen Moorgebieten zu Hochtouren auf. Die Ängste wurden mit jeder Wanderung weniger – mein steter Hunger jedoch nicht. Keine Wanderung ging mir ohne Pausenbrot, Muffins oder Schokolade von den Beinen – auch nicht die kürzeren Strecken. Denn: Wo Kuchen ist, da ist auch Hoffnung.
Die NORDPFADE haben mein Leben verändert – wenn auch weniger radikal als bei Aussteigern wie Christine Thürmer. Die schönsten NORDPFADE und meine Erfahrungen hier werde ich in Kürze mit euch teilen…
Infos zu den NORDPFADE findet ihr hier: www.nordwaerts.de